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Schlagwort-Archive: Opfer

In den drei synoptischen Evangelien wird übereinstimmend berichtet, dass mit dem Kreuzestod Jesu der Vorhang im Tempel „von oben bis unten“ oder „mittendurch“ zerriss. Was auf den ersten Blick als Ornament erscheint, als eine Ausschmückung des von Wundern begleiteten Kreuzigungsereignisses, hat aus Sicht der mimetischen Theorie René Girards eine tiefere Bedeutung. Wie bei anderen Bibelstellen fordert Girard auch hier dazu auf, ihren Wortlaut entgegen dem liberalen Zeitgeist nicht weniger wörtlich, sondern so wörtlich bzw. ernst wie nur möglich zu nehmen. Konkret heißt das nicht, blind an dieses kleine Wunder zu glauben, sondern seine Symbolik zu verstehen, die ein viel größeres Wunder offenbart.
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Der mimetischen Theorie René Girards zufolge beginnt die Menschwerdung mit einem kollektiven Mord. Das Anwachsen des Mimetismus unter den Hominiden verstärkt die Gefahr, dass tierische Aggression nicht mehr durch die Bildung einer Rangordnung kontrolliert werden kann. In einer solchen Rangordnung wird das die Gruppe dominierende Tier durchaus nachgeahmt. Diese Nachahmung wird jedoch niemals zur „Aneignungsmimesis“, sie führt also nicht zu einer Konkurrenz mit dem Ranghöchsten um seinen Status. Alle Güter stehen zuerst ihm zu, und alle anderen erhalten, was er ihnen freiwillig überlässt. Seine Dominanz gewährleistet die Stabilität der Gruppe.
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Viele Menschen wissen auch 11 Jahre später noch, wo sie am 11. September 2001 waren, als islamistische Terroristen in gekaperten Flugzeugen die beiden Türme des World Trade Centers in New York zum Einsturz brachten. Vielleicht liegt das am „heiligen Schrecken“, den solche Katastrophen verursachen und der sich in der paradoxen Doppelbedeutung „heilig“ und „verflucht“ des lateinischen Wortes sacer niedergeschlagen hat. Und der wohl auch für die irritierenden Äußerungen des deutschen Komponisten Karlheinz Stockhausen verantwortlich ist, der in einem Pressegespräch auf die Frage eines Journalisten nach seinen persönlichen Empfindungen zu den Attentaten nur fünf Tage später erklärte:

Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat. Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben. [Zögert.] Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. (Quelle: http://www.stockhausen.org/hamburg.pdf)
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Ostern ist in der christlichen Tradition das Fest der Auferstehung. Es geht zurück auf die Ereignisse im Anschluss an die Kreuzigung Jesu, wie sie in den Evangelien berichtet werden. Bevor der auferstandene Jesus den Jüngern erscheint, wird sein leeres Grab entdeckt. Dass der Tote sich dort nicht mehr befindet, ist im biblischen Kontext das erste Indiz für die Wahrheit seiner Auferstehung, wie sie Jesus seinen Anhängern prophezeit hatte. Das leere Grab hat aber für den Religionsphilosophen und Anthropologen René Girard noch eine andere Bedeutung.
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In seinem Artikel „Lynching Qaddafi“ setzt sich Mark Anspach kritisch mit der brutalen Ermordung des libyschen Diktators auseinander. Die Art und Weise, in der Gaddafi von einem wütenden Mob gelyncht wurde, hält Anspach für ein Überbleibsel des archaischen Sündenbockmechanismus, wie er von René Girard beschrieben wurde. Demnach zieht der Sündenbock den kollektiven Hass auf sich, um in Krisenzeiten durch die kathartische Wirkung seiner Opferung den Aufbau einer neuen Ordnung zu ermöglichen.
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Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Propheten Grabmäler bauet und schmücket der Gerechten Gräber und sprecht: Wären wir zu unsrer Väter Zeiten gewesen, so wären wir nicht mit ihnen schuldig geworden an der Propheten Blut! So gebt ihr über euch selbst Zeugnis, daß ihr Kinder seid derer, die die Propheten getötet haben. Wohlan, erfüllet auch ihr das Maß eurer Väter!

Jesu Worte im 23. Kapitel des Matthäus-Evangeliums richten sich gegen die Gesetzeshüter der religiösen Gemeinschaft, der er selbst angehört. Sie sind auf den ersten Blick rätselhaft. Was ist falsch daran, den ermordeten Propheten Grabmäler zu errichten und sich von den Bluttaten der „Väter“ zu distanzieren? Der tiefere Sinn dieser Bibelstelle offenbart sich René Girard zufolge, wenn man sie im Kontext seiner anthropologischen Theorie vom Sündenbock liest. Dann kann sie auch zu einem besseren Verständnis des schwierigen Umgangs der Deutschen mit ihrer Vergangenheit beitragen, der sich in einem der größten Politikerskandale der Nachkriegszeit kristallisiert: der umstrittenen Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der sogenannten „Reichskristallnacht“.
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In ihrem Artikel vom 8.11.2011 auf der Webseite des französischen Magazins L’Express bringt Christine Kerdellant die vielfach beschworene „Ansteckungsgefahr“ der gegenwärtigen Krise mit René Girards mimetischer Theorie in Zusammenhang. Sie stellt zunächst fest, dass „Ansteckung“ das Modewort der Krise ist. Das kann man bei einem Blick in die deutschen Medien nur bestätigen. „Eurokrise erfasst Versicherer. Aufseher befürchten Ansteckung“ meldet n-tv am 24.10.2011. „Ansteckung: Euro-Krise greift auf Osteuropa über“ heißt es am 14.11.2011 auf dem Online-Portal der Financial Times Deutschland. „Wir haben die Ansteckung im ganzen Euro-Raum“, wird Finanzminister Schäuble am 29.11.2011 auf der Webseite des Handelsblatts zitiert. Mit den Worten Kerdellants ist „Ansteckung“ ein wahres Schreckgespenst für die europäische Staatengemeinschaft. Die Autorin vergleicht die derzeitige Aufgeregtheit mit der Angst vor der Schweinegrippe, die so übertrieben wie kostspielig für die öffentlichen Finanzen gewesen sei.
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Am 6. Oktober 2011 berichtete Angelika Franz bei SPIEGEL ONLINE von der Entdeckung einer neuen Moorleiche in Irland. Es handelt sich dabei offenbar um einen König aus der Keltenzeit, der seinen Verletzungen zufolge auf grausame Weise umgebracht worden war. Zuvor hatte es bereits ähnliche Funde gegeben. Warum aber haben die Kelten ihre Oberhäupter getötet? Franz befragte dazu einen Mitarbeiter des Irischen Nationalmuseums. Dieser stellte die folgende These auf: Die Kelten sahen in ihren Königen Stellvertreter der Sonne. Die Sonne stellte den männlichen Gegenpart zur weiblichen Erde dar. Das hieß, dass die Könige aus Sicht der Kelten im Prinzip mit der Erde „verheiratet“ waren. Man habe angenommen, dass im Winter die Erdgöttin alt und gebrechlich geworden sei und zur Revitalisierung einen neuen Gatten benötigte. Dies habe die Tötung des alten und die Einsetzung eines neuen Königs notwendig gemacht.
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Dieses Blog widmet sich dem Denken des Literaturwissenschaftlers, Anthropologen und Religionsphilosophen René Girard. Begegnet bin ich seinem Werk in den 1990er Jahren als Student der Anglistik und Amerikanistik. Vor allem in den USA gab es einen regelrechten Boom theoretischer Fragestellungen in den Literaturwissenschaften. Es dominierte der Poststrukturalismus, der den Strukturalismus abgelöst hatte. Im Zentrum der theoretischen Debatten standen das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit und die Frage, inwieweit das menschliche Denken durch sprachliche Strukturen bestimmt wird.
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