Die grauen Zellen und die Nachahmung

Der Mensch ist das nachahmungsfähigste Lebewesen. Die Erkenntnis, dass diese bereits von Aristoteles festgestellte Eigenart das Begehren des Menschen einschließt, bildet den Kern der mimetischen Theorie René Girards. Mimesis = Nachahmung. Menschen imitieren andere Menschen nicht nur bewusst, zu Unterhaltungszwecken, wie zu Aristoteles‘ Zeit die griechischen Schauspieler auf der Bühne. Sie kopieren zudem unbewusst im täglichen Leben die Absichten ihrer Mitmenschen, lassen sich von ihnen manipulieren und verführen. Die Mimesis ist eine wichtige Triebfeder menschlichen Zusammenlebens. Eltern wissen ein Lied davon zu singen. Das dem einen Kind gemachte Geschenk kann man dem anderen auf Dauer nicht vorenthalten, ohne dass es zum Streit kommt. Die Ursache liegt darin, dass das eine Kind den Wunsch des anderen kopiert und zu seinem eigenen macht.

Wohl niemand nutzt diesen unbewussten Nachahmungszwang effektiver als die Werbewirtschaft, die den „Konsumenten“ mit prominenten Vorbildern, sogenannten „Testimonials“, konfrontiert. Wenn er Steffi Graf im Werbespot einen Joghurt essen sieht, soll das den Zuschauer zur Nachahmung animieren, so dass er beim nächsten Einkauf intuitiv zum beworbenen statt zu einem Konkurrenzprodukt greift. Die glückliche TV-Familie mit dem dazugehörigen Mittelklassewagen suggeriert, dass ohne die motorisierte Verlängerung das Familienglück nur unvollständig ist. Und wenn alle Nachbarfamilien bereits ein solches Vehikel fahren, fällt es umso schwerer, sich dem Sog der Nachahmung zu entziehen.

Die mimetische Neigung des Menschen ist demnach äußerst produktiv. Sie stimuliert die Wirtschaft, die sich immer neue Produkte ausdenkt, welche dem Individuum zum vollkommenen Glück noch fehlen. Zudem wirkt sie als Katalysator für die kapitalistische Konkurrenz. Jedes Unternehmen schielt nach den Produkten des Mitbewerbers, um ihn im Kampf um möglichst große Marktanteile zu übertrumpfen. Wir Europäer werfen den Chinesen gern vor, dass diese unsere High-Tech-Produkte kopieren und damit ihr eigenes Geschäft machen. Dabei vergessen wir, dass die Nachahmung immer schon das Grundprinzip technischer Innovationen war und dass sich jede Entwicklung bewusst oder unbewusst auf Vorbilder bezieht.

Die große Rolle, welche die Nachahmung für das Verhalten des Menschen spielt, ist diesem ein wenig peinlich. Er sieht sich lieber als individuell und spontan, als eine göttliche Kreatur, die ihre Welt aus sich selbst heraus erschafft. Es ist äußerst unangenehm, nach dem erfolgreichen Shoppingtrip festzustellen, dass der Nachbar zufällig genau das gleiche Hemd gekauft hat. Dieser könnte ja glauben, man ahme ihn nach. Während Kindern das hemmungslose Kopieren von Vorbildern zugestanden wird, wirkt es bei Erwachsenen immer etwas lächerlich, wenn sie jede Mode mitmachen und dem Mainstream hinterherlaufen. Deshalb verleugnen sie diese Eigenschaft und projizieren sie auf andere. Sie selbst bestehen hingegen darauf, einen eigenen, unverwechselbaren Geschmack zu haben. Die Kehrseite der Nachahmung ist der verzweifelte Wunsch nach Unterscheidung, dessen produktive Kraft wiederum in der Ankurbelung der „Kreativindustrie“ und der Erfindung immer neuer Trends liegt.

Der Mensch ist diesem Spannungsfeld zwischen dem unbewussten Nachahmungszwang auf der einen Seite und dem Wunsch sich zu unterscheiden auf der anderen ausgeliefert. Dass wir unvermeidliche Trittbrettfahrer sind, die sich dafür in Grund und Boden schämen, in diesem Paradoxon besteht die wahre conditio humana. Es ist der destruktive Aspekt der Nachahmung, den René Girard im Laufe seines Schaffens immer stärker in den Blickpunkt gerückt hat. Wenn die mimetische Veranlagung des Menschen zu Konkurrenz und Rivalität führt, ist sie auch die Keimzelle menschlicher Gewalt. Kopiere ich die Absichten eines Mitmenschen, komme ich mir mit diesem ins Gehege, falls das begehrte Objekt nur begrenzt verfügbar ist. Das kann ein attraktiver Posten, eine begehrte Person oder ein rares Gut sein. Menschen konkurrieren um unendlich viele Dinge und geraten darüber in Streit. Dann wird in den Worten Girards die „Aneignungsmimesis“ zur „Gegenspielermimesis“, die Rivalität um ein begrenzt verfügbares Objekt zur Todfeindschaft, die im Extremfall das gesamte Streben eines Menschen absorbiert.

Dass es sich beim mimetischen Begehren tatsächlich um eine universelle Veranlagung handelt und nicht nur um ein vereinzelt anzutreffendes Verhalten, legt die Entdeckung der sogenannten „Spiegelneuronen“ nahe, die ein italienisches Forscherteam im Jahre 1995 im Gehirn von Makaken nachwies. Die Ergebnisse ihrer Experimente scheinen die Fundamente der Thesen Girards zu stärken. In einem ZEIT-Interview vom 6.1.2009 beschreibt Vittorio Gallese, wie es zur zufälligen Entdeckung der bis dahin unbekannten Nervenzellen kam:

Wir leiteten elektrische Signale von grauen Zellen ab, die die Bewegung der Tiere steuern. Immer wenn die Tiere nach dem Futter griffen, wurden diese Neuronen aktiv. Dann hörten wir in unseren Messgeräten ein Knattern. Doch als ich einmal selbst den Arm nach den Nüssen ausstreckte, ging das Knattern ebenfalls los – als hätte sich der Affe bewegt. Aber der sah nur ruhig zu. Erst glaubten wir natürlich an einen Fehler. Nach einer Weile begriffen wir, dass sich das Gehirn des Affen tatsächlich so verhielt, als versetzte es sich in den Kopf des Versuchsleiters hinein. Wenn das Tier die Bewegung eines anderen beobachtet, spiegeln diese Neuronen also das Verhalten des Gegenübers. Darum nannten wir sie Spiegelneuronen.

In dem Moment, in dem das Versuchstier sieht, wie der Wissenschaftler seine Hand nach dem Futter ausstreckt, entsteht in ihm spontan der Wunsch, dies ebenfalls zu tun. Es identifiziert sich mit der wahrgenommenen Absicht und verspürt einen Impuls, diese zu kopieren. Beim bloßen Betrachten der fremden Handlung werden offenbar dieselben Nervenzellen aktiviert wie bei der eigenen Ausführung dieser Handlung. Auf den Menschen übertragen würde diese Beobachtung exakt der Intuition Girards entsprechen, welche bereits die Kernthese seines ersten Werks Mensonge romantique et verité romanesque aus dem Jahr 1961 bildet: Das Begehren eines Anderen löst das Begehren in mir aus. Vom Subjekt führt kein gerader Weg zum Objekt der Begierde, sondern es nimmt einen Umweg über das Modell des Begehrens. Wenn sich bei Affen eine neurophysiologische Ursache für ihre Nachahmungsfähigkeit feststellen lässt und Menschen, wie auch Gallese konstatiert, die wesentlich erfolgreicheren Imitatoren sind, so dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis man Spiegelneuronen auch in den grauen Zellen von Menschen nachweisen kann.

Gallese nimmt im Interview mit der ZEIT seine Entdeckung zum Anlass, über den Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl nachzudenken, der sich daraus ergibt. Empathie ist die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen einzufühlen. Es scheint, als sei diese Fähigkeit die direkte Folge der Existenz von Spiegelneuronen: „Denn der Mechanismus der Spiegelneuronen bietet uns einen direkten Zugang in die Innenwelt der anderen.“ Diesen Zugang können wir jedoch zum Guten wie zum Bösen nutzen. Auch um Menschen zu manipulieren, sie für die eigenen Zwecke gefügig zu machen, muss man sich in sie hineinversetzen können. Und ein Sadist, so Gallese, empfindet Lust, „gerade weil er sich in das Leid eines Opfers einfühlen kann.“ Mitgefühl verstanden als Sorge um den Nächsten ist also etwas anderes als Empathie, und über Ersteres, so der italienische Forscher, wissen wir noch sehr wenig.

Die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse könnte man aus der Sicht der mimetischen Theorie Girards so zusammenfassen: Spiegelneuronen sorgen offenbar dafür, dass Menschen wahre Weltmeister im Nachahmen sind. Dieses „Talent“ hat jedoch die negative Auswirkung, Rivalitäten zu erzeugen, die im schlimmsten Fall zur Gewalt führen. Empathie als Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, kann demnach auch das Gegenteil von Mitgefühl oder Mitleid bewirken. Wenn nun der Mensch „von Natur aus“ ständig der Gefahr mimetischer Rivalitäten ausgeliefert ist: Worin bestünde dann ein wirksames Gegenmittel, das ein friedliches Zusammenleben ermöglicht? Die Beantwortung dieser Frage bildet für René Girard den Kern der biblischen Schriften, die sich vom Sündenfall des ersten Menschenpaares bis zur Versuchung Jesu durch den Teufel kritisch mit der Nachahmung auseinandersetzen. Darüber hinaus bieten sie den Menschen ein positives Gegenmodell: die Anbetung irdischer und nur begrenzt vorhandener Güter durch das Streben nach Gott als einem „unendlichen Gut“ zu ersetzen, wie es Raymund Schwager in seiner an Girards Thesen orientierten Bibelstudie Brauchen wir einen Sündenbock? formuliert.

6 Kommentare
  1. ytn sagte:

    merci für diese zusammenfassung. mimetisches verhalten scheint leider nicht zu funktionieren, wenn es darum geht, meinen freunden zu sagen, wie erhellend girards ausführungen für mich sind 🙂

    • Ich habe Ernst gemacht mit der Anwendung der mimetischen Theorie Girards; sie dient mir zur Erklärung des Judenmords im letzten Jahrhundert. Hier:

      In ‚Wassermanns Traum‘ ist direkt von Spiegeln die Rede. Sollte sich hier tatsächlich die Hirnforschung – die ich verachte – mit der Theorie Girards berühren? Und wenn ja, wie?

      • Ein interessanter Gedanke, dem Sie in Ihrem Text nachgehen. Deshalb vielen Dank für die Leseempfehlung. Girard selbst hat in seinem letzten Werk „Achever Clausewitz“ versucht zu zeigen, wie sich die von ihm entwickelte mimetische Theorie für die Erklärung geschichtlicher Entwicklungen fruchtbar machen lässt. Dabei hat er zahlreiche Bezüge auch zur deutschen Geschichte hergestellt. Was die Hirnforschung betrifft: Wenn die Entdeckung der Spiegelneuronen Girards Grundannahme bestätigt, wonach das imitative Begehren ein automatischer Reflex und somit der bewussten Kontrolle entzogen ist, so ist das aus Sicht der mimetischen Theorie sicher interessant. Nicht mehr und nicht weniger. Der von Scott R. Garrels herausgegebene Sammelband „Mimesis and Science“ fasst übrigens die Bemühungen zusammen, Girards Theorie in einen interdisziplinären naturwissenschaftlichen Diskurs einzubetten. Nur falls Sie in dieser Richtung weiterforschen wollen…

      • selene210 sagte:

        Danke für den Hinweis auf den englischsprachigen Sammelband. Mit ihrer Beurteilung der Relevanz der Entdeckung der ‚Spiegelneuronen‘ liegen Sie wahrscheinlich richtig: Verwundert hätte ja eher, wenn diese *nicht* gefunden worden wären. –
        Leider hatte ich noch nicht die Gelegenheit, das Clausewitz-Buch Girards zu lesen – die Langweiler bei Suhrkamp verschieben den Erscheinungstermin ja laufend. –
        Über die Nazis bzw. den Holocaust kenne ich nur Girards Bemerkungen in ‚Wenn all das beginnt…“ (S. 19, 63, 119). Ich denke, Girard konnte den von mir montierten Komplex nicht entdecken, weil er die mehrheitlich deutschen Texte der jüdischen Renaissance nicht kannte. Gerne würde ich ihm ein gewidmetes Exemplar der Arbeit zukommen lassen. Kennt jemand eine E-Mail oder postalische Adresse von ihm? Er ist jetzt 88 Jahre alt, man muss sich beeilen…

      • Genauso hatte ich das gemeint 😉 Apropos Suhrkamp: Der Verlag hat mir auf Nachfrage mitgeteilt, dass Girards Buch gar nicht dort erscheinen werde. Die genauen Gründe konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen. Ich selbst habe mich an die englische Übersetzung gehalten, die 2010 unter dem Titel „Battling to the End“ bei Michigan State University Press erschienen ist. Bei den aus deutscher Sicht besonders interessanten Spuren, die Girard in seinem Buch verfolgt, handelt es sich zum einen um die jahrhundertelange mimetische Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich, zum anderen um die spiegelbildliche Feindschaft von Nationalsozialismus und „Bolschewismus“. Girard bezieht sich in dieser zweiten Frage – kritisch – auf den deutschen Historiker Ernst Nolte und den französischen Historiker Francois Furet. Um Girard zu kontaktieren, würde ich mich an die Stanford University wenden, wo er Professor emeritus für Französische Sprache und Literatur ist. Ich habe das einmal gemacht und sogar eine Antwort von Girard selbst erhalten. Viel Erfolg!

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